Die Ebenen der Wirklichkeit

In den Kunstwerken, die Rhea Uher uns in dieser Ausstellung zeigt, gibt es drei Ebenen der Realität. Die erste Ebene ist die Bildfläche der etwa 1m x 1,20 m großen Kompositionen ...

Die abstrakten, zeichenhaften, linearen Bilder, die sowohl an Kosmisches und „Sternzeichen“, an alte Schriftzeichen erinnern, verbindet die Künstlerin in einem „Portraitprojekt“ mit bemalten Gesichtern. Die Bemalung der Gesichter ist die zweite Realitätsebene. Köpfe und Gesichter von Modellen werden über die Stirn und die Nase mit schwarzen Bögen über die Augenbrauen, den Wangenknochen und hin zum Kinn mit anderen Bögen artikuliert, aber auch verfremdet. Diese Bögen leben in vergleichbarer Selbständigkeit der Grundmalerei wie die Zeichen und Linien auf den Flächen der Acrylbilder. Gesicht Haare und Büste werden farbig angelegt. Das Individuelle tritt in diesen Schleier von Farbe und Linie zurück. Es sinkt von der Wirklichkeit des Alltags in die Wirklichkeit des malerischen Grundes, je nach Affinität zwischen Portraitiertem und Bild.

Rhea Uher verknüpft ihre Beobachtung der Person und deren Individualität liebevoll und schonungsvoll mit den möglichen Farbimpulsen, die sich aus der Körperhaftigkeit, dem Charakter, dem Temperament des Modells aufdrängen. Vom Temperament und vom Charakter der Köpfe findet sie eine Verbindung zu den vielfältigen Anlagen ihrer Acryle auf Leinwand. Durch die reale Bemalung des Portraitierten mit den im Bild enthaltenen Chiffren stellt sie eine Einheit zwischen Bild und Person her.

Diese Verbindung zwischen Modell und Bild wird in einem dritten Schritt in die Realität der Fotografie übertragen. Es entsteht ein dynamisches Beziehungsdreieck zwischen Bild, Modell und dem Betrachter, aber auch zwischen dem Modell, dem Bild und der Erkenntnis des Modells über die Malerei. Dies führt zur Veränderung der Selbstwahrnehmung beim Modell. Der gebildete Mensch wird zum Bild und nimmt Bild folglich ganz anders auf. Die Veränderung der eigenen Person wird staunend als Verfremdung und Wunschgebilde zugleich festgestellt. In der Fotografie dokumentiert sich eine neue, dem normalen Portrait nicht gegebene Transformation in das Überzeitliche. Diese Art von Bemalung hat nichts mit der heute so vielfach beliebten Körperbemalung zu tun, wo der Mensch zum Träger von Spannung und Malfreude einer Künstlerin, eines Künstlers „domestiziert“ ist. Durch Rhea Uhers Sichtweise wird das Herausstellen eines innernen Kerns des Bemalten und Portraitierten gefordert. Man spürt die rituellen Ursprünge dieser Art von Bemalung und das Einswerden mit dem Code von Malerei.

Die drei Ebenen der Realität Bild, Mensch, Fotografie wachsen zu einer neuen selbständigen Wirklichkeit des Bildes zusammen.

Die Veränderung und das, was als Neues entsteht, sind gewaltig. Vielleicht kann man das mit einer einfachen Beobachtung verdeutlichen. Im Schlaf verändert sich das Gesicht des Menschen, je nachdem, was in ihm vorgeht. Dinge, von denen wir selbst nichts wissen, spielen eine große Rolle. Wir erkennen, dass im Gesicht des Menschen unterschiedliche Ebenen des Ausdrucks, aber auch des Seins vorhanden sind. Dies ist äußerlich dadurch festzustellen, dass wir im Profil ganz anders aussehen, als en face. Also, in jedem von uns sind mehrere Schichten des Seins und des Daseins vorhanden, die sich im Gesicht spiegeln.

Diese in vielem kommentierte Erkenntnis der unterschiedlichen Ebenen des Seins, die sowohl von der Psychologie als auch durch die Künste in breit gefächerter Form vorgestellt werden, führt z.B. im Werk des Komponisten Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) zu einer Collagetechnik im musikalischen Bereich, in der das „pluralistische“ Komponieren sich eine Bahn bricht. So ist auch in der Kunst die Überprüfung der Zweidimensionalität des Bildes, das als Fläche unbestritten war, durch manche Künstler dahingehend verändert worden, dass man Schnitte (Lucio Fontana) in die Leinwand gesetzt hat oder durch Übergießen eine Dreidimensionalität des malerischen Gegenstandes zu gewinnen versuchte, etwa durch die „Migofs“ von Bernard Schulze. Rhea Uher schafft in diesem Sinne Collagen, die unterschiedliche Realitäten und Seinsebenen verbinden. In den Arbeiten ist entscheidend, dass die Daseinsgrenzen der Individuen sich mit den Erscheinungen als Bilder verbinden. Dass die Bilder mit ihren Strukturen und der Integration der bemalten Gesichter nun zu Emblemen werden, die, in einer veränderten Form das Kunstwerk neu hervortreten lassen, ist für beide, Mensch und Bild, eine Erweiterung.

Das alte Portrait hält häufig in den Betextungen des 16. und 17. Jahrhunderts unter der oder dem Dargestellten fest, dass man diesen oder jenen „seinen Alters zu“ mit 57 Jahren oder 60 Jahren oder 42 Jahren abgebildet hat. Die stellaren Gebilde von Rhea Uher, die kosmische Malerei, ist insofern eine „Sternstunde“, als sie Raum und Zeit im Bild neu definiert. Die Lebendigkeit des Menschen außerhalb der Betrachtung seiner Lebenszeit in der Kombination mit den „Gärten paradiesischen Ursprungs“ schaffen eine Anders-Welt. Insofern ist die Künstlerin eine Fee d´Autre monde. Sie hat zwischen den unterschiedlichen Daseinsebenen von Bildperson und Malerei eine neue Form von Ewigkeit festgehalten. Die innegehaltenen Zwischenräume der Zeit schaffen das Gültige.

Wie in der Musik von Zimmermann, spielen die verschiedenen Ebenen des Seins, aus Sprache und Klang eine große Rolle. Die Sprache ist das Portrait, der Klang ist der intervallische Rhythmus der schwarzen und hellen Zeichen auf dem duftenden Grund. Die elektronischen Klänge bei Zimmermann schwellen und werden rhythmisiert. Darein legen sich Reden von Zeitgenossen. Wir hören und erkennen diese ineinandergreifenden Schichten des Existenziellen und gelangen zu einem neuen Ausdruck im Kunstwerk. Auch in den Arbeiten von Rhea Uher verwachsen so Person und Klang des Bildes zu einer Einheit. Das Individuum verläßt durch die Bemalung sein Selbst und verwandelt sich mit den Zeichen des Bildes ins Mythologische, wie Niobe, die trauernde Mutter um ihre vielen Kinder, sich in einen Fels verwandelt hat.

Die Verwandlung der Person in das Überindividuelle geschieht dadurch, dass die Grenzen des Alltags, der Wiedererkennbarkeit, der Zuschreibung auf eine bestimmte Person, unscharf werden. Das Vordergründige wird unwichtig. Dadurch gewinnt die Tiefe des Daseins. Der Hintergrund läßt sich als Existenzebene, als Atem des Eigentlichen spüren.

Die multimediale Technik vertieft und lädt die Aussage sinnenhaft auf. Die erwähnten drei Realitätsebenen werden miteinander verzahnt. Es kommt zu einem gewissen Pluralismus.

Man erkennt an den Arbeiten, wie dünn die Scheidewand zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen ist. Im Bereich der Kunst wird sie ja ohnehin ständig überwunden. Kunst wirkt und bewirkt. Das ist ihre Wirklichkeit. Die Wirkung ihrer Bilder ist jenes große Es, dem auch die Sprache in einem vorsichtigen Bogen aus dem Weg geht. Es ist das eigentlich Geheimnisvolle, das zwischen den Ebenen festgehalten ist. Das Es ist die Untiefe des Bildes.

Die Doppeldeutigkeit des Begriffes Untiefe ist von der Künstlerin in einer erkenntnisreichen Inhaltsschwere begriffen. Untiefe ist zunächst eine geringe Tiefe, eine Gefährdung der Schifffahrt durch die Grund(Boden)berührung. Gleichzeitig verweist die Künstlerin auf die große emotionale Tiefe (so wie es der Duden erklärt, anlehnend an dem Begriff Unmenge). Hier ist aufgrund des Präfixes „Un-“ eine besonders tiefe Stelle. Untiefe meint also sich selbst und sein Gegenteil. Die eigentliche Tiefe der Bilder von Rhea Uher sind nicht die räumlichen Staffelungen, die wir in manchen illusionistischen Arbeiten anderer Künstlerinnen und Künstler sehen, sondern die Tiefe des Gesehenen im Spiegel der eigenen seelischen Potenz und der Potenz derer, die festgehalten sind. Untiefe meint das wirkende Unwirkliche dieser Bilder. Über das malerische Tun und durch die Nachdenklichkeit, durch die Bemalung der Menschen verwächst der äußere Eindruck mit dem Überrealen, mit dem Meditativen. Das Reale verläßt durch Malerei die Leinwand, die Vorlage und verwandelt sich in eine andere Daseinsebene, in einen Aphorismus von Ewigkeit.

 

Dr. Friedhelm Häring
Direktor Oberhessisches Museum Gießen
November 2008